An die Arbeit

Dicker Kopf, dicke Luft, dicker Hals

Nach dem Abiball wacht Effi in einem fremden Bett auf, verkatert und mit einer vagen Ahnung, dass sie nicht alleine ist. Im Beitrag Effi 19 für Zeitpunkte des rbb Inforadios geht es um Abschnitt eins der Frankfurter Gruppe. Wieder nüchtern, konfrontieren sie die Eltern gleich mit dem nächsten – nicht abgesprochenen – Kapitel: Die Tochter soll ins Familienunternehmen einsteigen. Eigene Lebensplanung gefällig?

An die Arbeit

Der Moment des Side Cuts

Nachdem wir unseren Abschnitt gelesen hatten, wollten wir am liebsten gleich mit dem Schreiben beginnen. Doch schnell kamen Fragen auf: Wie wird die Effi im Jahre 2019 sein? Sollten wir eine gemeinsame Figur haben oder jede seine eigene? Wir entschieden uns, gemeinsam eine Figur zu entwickeln. Was in der Diskussion noch kompliziert klang, geschah dann fast selbstverständlich. Jede steuerte ein paar Eigenschaften und Hintergrundinformationen bei, sodass sich bald darauf ein stimmiges Bild ergab. Die gerade entstandene Effi begeisterte uns sofort. Spontan suchte sich jede von uns eine Schlüsselszene aus Effis Leben aus, die sie unbedingt schreiben wollte. Hier der nächste Beitrag des Teams aus Cottbus:

Der Bass dröhnte und warf Wellen über die tanzenden Schulabgänger. Ab und zu hörte man eine Stimme hervorstechen, die dann sowas rief wie „Scheiß Schule!“ oder es wurde betrunken „Ich liebe euch, Leute“ ins Mikro der Band gelallt. Die Stimmung war toll und die Musik laut. Effi schlug sich ihren Weg über die Tanzfläche, die dutzend Lichter, die über die bebende Menge blitzten, brachten ihr neongelbes Haar zum Leuchten. Am anderen Ende des Saals warf sie sich geschafft auf eines der dort stehenden Sofas.

„Wow, wie geil ist das hier!“ Effi nahm ihrem Klassenkameraden Finn die Bierflasche aus der Hand und leerte sie in einem Zug. Finn grinste dämlich: „Ja, total cool!“

Sofie, oder einfach S, aus der Parallelklasse bemerkte: „Effi, was hast du mit deinen Haaren gemacht?“

Finn mischte sich wieder ein: „Das sieht echt übelst nice aus.“

„Danke.“ Effi lehnte sich in das viel zu weiche Sofa. Sie schloss die Augen und fühlte den Bass wie einen Herzschlag in ihrer Brust. Es hatte etwas Beruhigendes, was einen gleichzeitig mega elektrisierte.

„Leute, wer gibt mir ein Bier, ich habe Lust zu feiern!“ Ein begeistertes Jubeln ging durch die Gruppe und man drückte Effi ein warmes Bier in die Hand. Fast feierlich hob sie die Flasche, worauf ihre Freunde die ihren dagegen schlugen. Das Glas der Flaschen klirrte und sie tranken, dann wurde wieder getanzt, bis keiner mehr wusste, wieviel Uhr es war, da sie alle geschworen hatten, keine Uhr mitzubringen, damit sie das Gefühl haben konnten, die Party würde ewig dauern. Irgendwann hatten sie sich alle auf eines der alten Sofas gequetscht und stellten ein weiteres gegenüber, sodass jeder Platz hatte. Effi saß auf der oberen Lehne des dazugestellten Sofas. Ben, ein totaler Streber, der zu tief in die Flasche geschaut hatte, reckte theatralisch die Hände gen Hallendecke und rief: „Zukunft!“

Schlagartig wurde es still.

„Also ich werde Arzt.“

Jubel brandete auf.

„Architekt“, kam es von der gegenüberliegenden Ecke des Sofas.

„Designerin!“, schrie Sofie.

Und das löste eine Welle aus, jeder schrie seinen Wunschberuf. Effi aber saß stumm da, wie geschockt. Dann packte sie ihre Jacke und ging.

Tamina

In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Zwar war in den vergangenen Stunden viel passiert, doch alles war momentan unwichtig, denn das Einzige, woran sie dachte, war das kuschelig weiche Bett in ihrem Zimmer. Träge rührte sie ihren pechschwarzen Kaffee um. Das vorwurfsvolle Schweigen, welches in der Luft hing, drückte nur ansatzweise aus, wie die Spannung zwischen Effi und ihren Eltern knisterte. Ihr Vater räusperte sich und spielte nervös mit dem Teelöffel herum. Das war seine typische Art, wenn er sehr zornig war, nur nicht wusste, wie er es ausdrücken konnte.

„Tja Effi“, begann er zögernd, „du hast uns also gar nichts zu sagen?“

Effi hielt mit dem Umrühren inne und sah ihren Vater genervt an.

„Nein“, sagte sie frech und starrte wieder auf ihren Kaffee. Ihr Kopf dröhnte. Das würde der schlimmste Kater werden, den sie je hatte.

„Ich glaube schon“, zischte ihre Mutter mit eisiger Stimme. Ihr Hals war mit roten Flecken übersät. „Was zum Teufel hast du mit deinen Haaren angestellt!? Bist du völlig irre geworden? Was sollen bloß unsere Nachbarn von dir halten? Ich höre sie schon flüstern! Weißt du eigentlich, dass du schon genug Missbilligung bekommst?“
Sie hörte auf zu sprechen. Zu sehr regte sie sich auf.

„Dann kommt wenigstens etwas Farbe rein“, erwiderte Effi kühl. „Meine Haare, finde ich, passen doch super gut in unsere Spießersiedlung. Außerdem ist das nicht eure Angelegenheit. Ich bin 18! Schon vergessen?“ Ihre Mutter warf ihr einen Todesblick zu. „Wir haben nichts dagegen, wenn du dir die Haare färbst. Wir sind schließlich auch künstlerisch.“

„Genau. Hättest du was gesagt, wäre ich mit dir auch zum Friseur gegangen. Dann sähest du wenigstens nicht… so aus“, warf ihr Vater mit einem gequälten Lächeln ein.

„Ich mag meine Haare, wie sie sind, denn Side-Cuts sind cool und jetzt habe ich endlich den Mut dazu.“

Ihre Eltern sahen sich an und ihre Mutter fragte mit zusammengekniffenen Augen: „Hast du dir überhaupt mal Gedanken über deine Zukunft gemacht? Ich meine… 1,9 Abi! Damit kannst du was machen. Was hälst du von Literatur? Sie ist sehr interessant“, fing ihre Mutter an zu schwärmen.

Schwungvoll stand Effi auf. „Weißt du was? Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht, sondern genieße erstmal das Leben.“Dann verließ sie die Küche, vergaß nicht, die Tür noch einmal heftig zum Unterstreichen ihrer Worte zuzuknallen.

Henriette

Die schwere Holztür knarrte leise, als Effi sie öffnete. Sofort zog sie ihre Stiefel aus und warf sie in eine Ecke neben ihrem Schreibtisch. Auf ihm befanden sich ausschließlich ein bunt beklebter Laptop, ein Notizbuch und ein kleines Glas mit zwei Bleistiften und einem Kugelschreiber darin. Die vielen Schubladen daneben hatte sie nie gebraucht. Sie besaß einfach nichts, wofür man sie nutzen könnte und so blieben sie leer. Dabei boten sie so viel Stauraum für verschiedenste Dinge, die nur sie etwas angingen und außerdem mochte Effi das Geräusch, wenn man sie auf- und zuzog. Auch die beiden Regale über dem Schreibtisch waren beinahe leer. Es lagen nur ein paar Quittungen darauf, die sie nie entsorgt hatte. Effi setzte auf Minimalismus, es war einfach so viel praktischer. Außerdem besaß sie so nicht viele Dinge, an die sie denken oder um die sie sich sorgen musste.

Das Bett schien frisch bezogen zu sein. Wahrscheinlich hatte es ihre Mutter nicht mehr mit ansehen können und Effis Lieblingsbezüge nach langer Diskussion doch selbst gewaschen. Alles in allem wirkte das Zimmer eher befremdlich und Effi sah es schon lange nicht mehr als ihren Rückzugsort an. Bei ihren Freunden fühlte sie sich zu Hause. Doch hier geisterten nur ihre aufgedrehten Eltern herum, die ihr sowieso nur alles ausreden und verbieten wollten. Nein, das hier war nicht ihr Zuhause.

Mit einem lauten Seufzen ließ sie sich auf ihr Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen.

Luisa

Sie schwenkte ihr Sektglas und beobachtete das Licht, wie es sich darin spiegelte und auf die weißen Fliesen tanzende Punkte warf. In einem Schluck trank sie das Glas leer und stellte es auf einem Stuhl ab, von dem sich gerade ein älterer Herr erhoben hatte. Dann drehte sie sich fort und hörte das Glas auf den Boden scheppern, lief jedoch weiter, als wäre sie an diesem Geschehen völlig unbeteiligt gewesen. Ihre roten Lackpumps gaben ein Klacken von sich, als sie über die Fliesen trat und dabei dramatisch mit den Hüften wackelte und allen zuwinkte, die sie dabei irritiert anstarrten. Sie gesellte sich zu einem Pärchen. Die beiden hielten sich an der Taille, als würden sie sonst auseinander fallen. Sie standen vor einem Gemälde, das so aussah, als hätte jemand einen Faden in rote Farbe getunkt und dann auf das weiße Papier geworfen. Das Pärchen unterhielt sich angeregt, sie gestikulierten mit ihren freien Händen und sahen dabei so angestrengt und konzentriert aus, als hätten sie ihre zärtliche Geste vergessen. Ihr Gebrabbel wurde langsam zu der absurden Interpretation, dass der rote Faden eine Ader wäre, eine Arterie, der Fluss des Lebens und Blut würde einen quasi anspritzen, wenn man das Gemälde ansehe.

„In der Tat“, sagte auf einmal Effi und sofort beendeten die beiden ihr Gespräch und schauten zu ihr, „Ich kann es förmlich spüren, wie mir ein Vampir das Blut aus den Adern saugt und dann mitten ins Gesicht spuckt.“

Der Mann und die Frau starrten sie an.

„Ungefähr so.“ Sie sog die Luft ein, gab ein Geräusch von sich, als würde sie Rotz hochziehen und tat so, als würde sie auf das Bild spucken.
Die Frau neben ihr hielt sich die freie Hand auf die Brust und ächzte, doch sie seufzte, als die erwarteten Spucketropfen ausblieben.

„Spüren Sie es auch?!“, fragte Effi.
„Nun… eine sehr gewagte Interpretation…“, sagte der Mann.
„. . . und dann noch so ungewöhnlich dargestellt“, sagte die Frau.
„Jaja, ungewöhnlich und gewagt sind mein zweiter und dritter Vorname!“
„Aha.“
„Na dann, auf Wiedersehen. Es war angenehm, Sie kennenzulernen.“

Effi stolzierte weiter und entdeckte ihre Eltern im Getümmel. Sie zog leicht am Jackettärmel ihres Vaters.

„Guten Tag, Herr Papa“, sagte sie.
„Benimmst du dich auch, Effi?“, fragte er.
„Aber natürlich. Immer doch.“

Swantje

Fotos: privat (1) / flickr