Ein weites Feld

„Effi hat das Beste aus ihrer anfänglich unglücklichen Situation gemacht“

Als Studentin an der Universität Leipzig entschied sich Juliane Stückrad für Ethnologie und Kunstgeschichte. Nach ihrem Abschluss reiste sie durch Mittelamerika, auf der Fährte exotischer Kulturen. Zurückgekehrt, spürte sie dem kulturellen Gedächtnis ihrer Landsleute nach, der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Gewandert wie Theodor Fontane, den die gebürtige Eisenacherin schätzt, ist Juliane Stückrad allerdings nicht. Sieben Jahre lebte und arbeitete sie im Süden Brandenburgs. Die Begegnungen mit den Menschen dort inspirierten ihre Dissertation, „Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit. Transformationsprozesse im ländlichen Raum in Brandenburg am Beispiel von Elbe-Elster“. Medial geschürten Vorurteilen über jammerige Ostdeutsche hält sie ein dynamisches Plädoyer entgegen, wonach eine Gesellschaft, die sich ständig neu erfinden muss, ein Recht auf Toleranz hat, auf Wertschätzung – und Erschöpfung. Ein Gespräch über Identität(en).

In Ihrer Dissertation fällt das Wort „Transformationsprozesse“. Das klingt schmerzhaft, aber dynamisch. Wie übersetzen Sie den Begriff?
J.S.: Er hat sich in der wissenschaftlichen Sprache durchgesetzt, wenn es um die Umformung eines gesellschaftlichen Systems in ein anderes geht. Ich verwende diesen Begriff nicht wertend. Jeder empfindet diesen Prozess anders. Es kann sein dass es einzelne gibt, die diese Umwandlung als schmerzhaft erleben, andere erleben sie als Befreiung.

Auch Theodor Fontane hat vor rund 150 Jahren Veränderungen in der Haltung seiner Landsleute beschrieben, etwa den Fortschrittsglauben oder aber die Kriegsbegeisterung 1870/71. Dem entgegen setzte er seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, ein idyllisches, im Erzähltempo unaufgeregtes Buch. War das Absicht?
J.S.: Fontane folgte selbst dem Geist seiner Zeit, der Landschaft und das Leben der Landbevölkerung neu entdeckte und für künstlerisch inspirierend hielt. Generell spürt man als Bewohner ländlicher Räume bewusster die Anhängigkeit von der Natur. Das strukturiert das Leben anders. Die Gegenden sind dünner besiedelt. Und wo weniger Menschen leben, gibt es auch weniger Kontakte und Aktionen. Beides, die Nähe zur Natur und die strukturelle Ereignislosigkeit, führen zu einem bestimmten Lebensgefühl, das der eine positiv als Entschleunigung empfindet, während der andere sich langweilt.

Sind die Brandenburger konservativ – oder sind sie weitsichtig genug, nicht jeden Trend sofort mitzumachen?
J.S.: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich während meiner Jahre in Brandenburg überproportional viele konservativ eingestellte Menschen traf. Ich hatte eher den Eindruck, dass sich viele im Zustand einer Suche befanden. Man war bemüht, mit den Erfahrungen aus dem Leben in der DDR und der Nachwendezeit Handlungssicherheiten für die lokalen Gegebenheiten zu finden.

Unsere Herkunftsheimat prägt unsere Identität am stärksten. Sie stammen aus Thüringen, haben in Sachsen studiert und dann sieben Jahre in Brandenburg gelebt. Was ist Ihnen aufgefallen, wo die Mark anders tickt?
J.S.: Ich erlebte in der Tat einen Kulturschock, nachdem wir uns entschieden hatten, richtig nach Brandenburg zu ziehen. Das war vor allem dem Stadt-Land-Unterschied geschuldet, da ich bis dahin nur in Städten gelebt hatte. Das Leben auf dem Land erschien mir anstrengender und einsamer, weil man nicht die gewohnte Infrastruktur vorfindet und nicht so einfach die sozialen Milieus findet, die man gewohnt ist. Dafür begegnete ich Menschen, die ich in der Stadt nie getroffen hätte und von denen ich viel lernte. In der Rückschau war die Zeit in Brandenburg sehr wichtig für meine persönliche Entwicklung. Ohne es zu deuten, stelle ich fest, dass ich als Ethnologin bei meinen Forschungen in den Dörfern und Städten Thüringens und Sachsens sehr viel einfacher mit den Menschen ins Gespräch komme, als in Brandenburg. Bei meiner Feldforschung im Elbe-Elster-Kreis war es wesentlich aufwändiger an Daten zu kommen. Die Menschen im Süden Brandenburgs wirkten verschlossener auf mich und mehr mit sich beschäftigt, natürlich von den Ausnahmen abgesehen, von denen ich genauso berichten könnte.

Sind Fontanes Romanfiguren typische Brandenburger?
J.S.: Ich halte es für gewagt, sie mit heutigen Menschen zu vergleichen. Die Region war jahrhundertelang von der Gutswirtschaft und deren Abhängigkeitsverhältnissen geprägt. Das ist mentalitätsgeschichtlich nicht unwesentlich, weil es die Einstellung zu Machtverhältnissen und zur eigenen Handlungsfähigkeit beeinflusste.

Effi Briest ist eine junge Frau, deren Wunsch, modern zu denken und Neues zu wagen, von den Konventionen ihrer Zeit und ihres sozialen Umfelds gecrasht wird. Geht Fontane zu hart mit seiner Protagonistin um oder war er als Autor einfachzu alt, um ihr Schicksal optimistischer zu schreiben?
J.S.: Fontane hat beim Schreiben möglicherweise die dramatische Handlung vor Augen gehabt, die mit dem frühen Tod Effis einfach besser funktioniert hat.

Wie haben Sie die jungen Brandenburger heutzutage erlebt?
J.S.: Sie sind, wie wir alle, entspannter, was die gesellschaftliche Relevanz von Eheschließungen und Scheidungen betrifft. Und dennoch sind auch wir in Konventionen gefangen; zum Beispiel, dass junge Eltern heute viel zu leisten haben: Man muss beruflich erfolgreich sein, möglichst nicht zu spät Kinder bekommen, diese optimal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten und neben Beruf und Familie auch noch fit, gut drauf und gesellschaftlich engagiert sein. Das alles ohne Dienstpersonal zu bewältigen, wäre für Effi sicherlich undenkbar gewesen.

Mich hat erstaunt, dass die Familie für viele junge Menschen, Jungs und Mädchen, die ich in Brandenburg traf, so eine große Rolle spielt. Das wirkte auf mich nicht zwanghaft, sondern freiwillig und zumeist entspannt. Mir erschien es aber häufig, dass in vielen Familien Zukunftsängste und Pessimismus, die aus der Massenarbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung resultierten, an die nächste Generation weitergegeben wurden. Mädchen mussten mit ihren beruflichen Interessen häufig konsequenter ihr Zuhause verlassen und konnten sich so andere Weltsichten aneignen.

Wenn Effi im Jahr 2019 als junge Frau ihren Wohnsitz Hohen-Cremmen „managen“ würde, wie sähe der aus? Haben Sie in Brandenburg ein Beispiel erlebt, das funktioniert und Identifikationsräume für die Menschen vor Ort schafft?
J.S.: Effi käme würde mit Hilfe von Fördermitteln und Spenden das heruntergekommene Gut zu einem Mehrgenerationenhaus mit betreutem Wohnen und Kindergarten ausbauen. Kulturelles Herzstück dieser Einrichtung ist ein Buchladen mit Lesecafé, die von ortsansässigen jungen Leuten betrieben werden. Dort gibt es regelmäßig Veranstaltungen und sogar eine Theatergruppe hat sich gegründet, die lokale Themen humorvoll auf die Bühne bringt. Dafür habe ich übrigens ein wunderbares Vorbild vor Augen, die „Bücherkammer“ in Herzberg.

Ausgehend von Effis Gut ist das ganze verschlafene Dorf zu neuem Leben erwacht. Erste Familien ziehen zu und in Kürze wird der alte Dorfkonsum wiedereröffnet. Für eine zuverlässige Busverbindung in die nächste Stadt setzt sich jetzt eine Bürgerinitiative ein. Ich würde sagen, Effi hat das beste aus ihrer anfänglich unglücklichen Situation gemacht. Sie kann sehr stolz auf sich sein. Ach so, natürlich hat sie auch jemanden fürs Herz gefunden, der sie wirklich liebt. Es ist der Pfarrer aus dem Nachbardorf, aber das soll noch keiner wissen.

 

Dr. Juliane Stückrad, Jahrgang 1975, ist Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat in Leipzig studiert, in Jena promoviert und lebt – nach einem Abstecher in den Süden Brandenburgs – nun wieder mit ihrer Familie in ihrer Heimatstadt Eisenach. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Bereiche Theaterethnologie, religiöse Volkskunde, Dorf- und Brauchtumsforschung. Aktuell beschäftigt sie sich mit der Bedeutung der Dorfkirchen im ländlichen Raum in Sachsen. Sie ist zudem Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Volkskunde der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Fotos: Privat