An die Arbeit

Es begann mit einem B(r)uch

Effi Briest neu erschaffen, das haben die fünf Schreibteams des eff.i19-Projekts, das hat auch die Freiburger Autorin Mara Andeck. Ihr Roman heißt „Effi liest“ und ist im Fontane-Jubiläumsjahr 2019 unter ihrem Pseudonym Anna Moretti erschienen. Die Geschichte spielt nicht im Heute sondern zur Entstehungszeit des Originals, 1894. „Effi“ heißt Elena, sie ist 18 Jahre alt und vollzieht ein der Fontane-Figur vergleichbares literarisches coming of age. Sie ist unzufrieden mit den Konventionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, lehnt die Rolle ab, die ihr die Gesellschaft zuspricht, und sucht stattdessen den Auf- bzw. Ausbruch. Indem sie liest. Bücher, deren Inhalt nach damaliger Einschätzung jungen Frauen nicht bekommt: „Physiologie des Genusses“. Dafür wird Elena des Internats verwiesen – und beginnt stattdessen, zu studieren. Das eff.i19-Team aus Cottbus hat den Roman gelesen.

Die Figuren der Geschichte sind liebevoll skizziert und sehr echt dargestellt. Auch der Konflikt des Romans ist bewegend. Es geht um die Neugier eines jungen Mädchens auf die Liebe. Für meinen Geschmack könnte man aber tiefer gehen. Mehr Konfrontation und ernsthafte tiefgründige Szenen hätten das Werk fesselnder machen können und mein Interesse an dem Buch gesteigert. Mir gefällt die Geschichte hinter dem Roman, ein Mädchen, das die Norm in Frage stellt. Die Power hinter den Wörtern reichte für mich manchmal nicht aus. Trotzdem kann ich sagen, dass dieser Roman mit seiner interessanten historischen Ebene, den detailgetreuen Bildern und den medizinischen Fakten nachvollziehbar und glaubhaft ist.

Tamina Hägler

Leuten, die in der Moderne aufgewachsen sind, fällt es oftmals schwer, sich in die Vergangenheit hineinzuversetzen. Wer kann es ihnen verübeln? Für uns ist heute vieles ganz normal, was früher verpönt war. Diesen Unterschied zwischen heute und damals stellt Anna Moretti in ihrem Roman ,,Effi liest“ sehr bildlich dar. Was für einen Stand hatten junge Frauen damals? Welche Freiheiten und Träume hatten sie und wie war es mit der Liebe und dem Akt? Mit vielen kleinen Details und geschichtlichem Wissen hat die Autorin ein leicht und flüssig zu lesendes Buch geschaffen. Mir hat manchmal etwas Tiefe und Pepp gefehlt. Für jeden, der ein gutes Buch zum Entspannen lesen möchte, ist dieses Werk perfekt geeignet.

Alpha Heidel

Besonders gefallen hat mir die kritische Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und seinen Theorien. Ich habe den Eindruck, dass seine manchmal fragwürdigen Äußerungen nicht beachtet werden in der generellen Vermittlung an den Psychologie-Laien. „Effi liest“ klammert Kritik nicht aus. Auch fand ich es toll, durch die den Kapiteln vorangestellten Zitate oder die Briefe von Max so viel über den damaligen Zeitgeist zu erfahren.

Die Frauenfiguren im Roman sind allesamt stark und rebellisch. Eine heutige Leserin würde nichts anderes mehr akzeptieren.

Elena begehrt erfolgreich gegen die frauenfeindlichen Lebensumstände des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf. Sie ist ein toleranter, offener Mensch. Sie verkörpert somit Werte, die in unserer Zeit selbstverständlich sind und mit denen sie damals als Frau bestimmt noch größere Probleme bekommen hätte, als im Roman dargestellt. Mit ihr kann ich mich auf jeden Fall identifizieren, da dieses Unverständnis für überholte Konventionen und Bevormundung zeitlos ist. Es mag dem Genre der romantischen Komödie geschuldet sein, das ich solche Bücher sonst kaum lese, ich konnte das Ende der Geschichte von Beginn an erahnen. Überraschungen in der Handlung gab es für mich also nicht. Ich habe das Buch trotzdem gerne gelesen und nach wenigen Tagen zufrieden zugeschlagen.

Swantje Kautz

Der Roman wurde viel diskutiert in der Schreibwerkstatt im Gladhouse, und ambivalent bewertet: Etwa, dass Mädchen und junge Frauen zur damaligen Zeit zu Lustobjekten gemacht wurden, man es vorzog, sie ahnungslos zu lassen was Erotik betraf, und sie diesbezüglich Glück oder Pech mit ihren Ehemännern haben konnten. Heutzutage wiederum machten sich Mädchen oftmals selbst – bewusst – zu Lustobjekten und versuchtten so, Reaktionen zu provozieren, die helfen, sich zu entdecken.

Die profunde medizinhistorische Recherche, die Mara Andeck ihrem Roman zugrunde legte, fand bei allen Würdigung. Kritik gab es am Stil als „zu betont jugendlich“.

„Aber wenn man über ein Buch streiten kann, hat es doch schon viel erreicht.“

Launige Passagen vedankt der Roman den Briefen, welche die männliche Hauptfigur, der junge Dresdner Arzt Max von Waldau, seinem Bruder schreibt.

Fotos: flickr/PR

An die Arbeit

„Ich will die Welt sehen. Hauptsache weg vom Dorf.“

Vier Szenenstudien zu Effi und Innstetten: Der Moment auf dem Abiball, in dem Effi sich entschließt, eine Beziehung zum älteren Innstetten einzugehen – obwohl sie weiß, dass er der Ex ihrer Mutter ist.

Das neblige Licht in dem stickigen Saal, gestreut durch die billige Diskokugel, störte mich nicht im Geringsten, auch wenn ich kaum erkennen konnte, was fünf Meter weiter passierte. Ich wartete ja nicht darauf, dass jemand mich zum Tanzen auffordern würde. Ganz im Gegenteil, ich war vollkommen zufrieden damit, einsam an meinem Glas Sekt zu nippen und darauf zu warten, dass ich wieder gehen konnte. Ehrlich gesagt hätte ich den Abiball am liebsten gemieden. Mich reizte nichts daran, pappige Häppchen zu essen und Großeltern beim Stolz sein auf ihre dämlichen Enkel zuzusehen.

„Effi, hörst du mir noch zu?“

Ich schaute Innstetten an. Nein, wollte ich sagen, ich habe dir auch vorher nicht zugehört.

„Natürlich, natürlich.“ Meine Mutter war nicht weit, sie wäre außer sich, wenn ich so unhöflich zu ihrem lieben Innstetten wäre. „Wovon hatten wir gerade gesprochen?“

„Ich sagte, dass ich mein Haus in Kessin renovieren lassen habe. Es ist jetzt sehr viel heller und einladender.“
„Kessin“, ich überlegte, ob ich den Ort kannte, „ist das weit weg von hier?“
Innstetten lächelte schmallippig. „Gerade nah genug, damit ich euch oft besuchen kann.“
Weit genug weg, um nicht vor Langeweile zu sterben.

In dem Moment war mir egal, dass meine Mutter immer noch von Innstetten redete, als wäre er die Liebe ihres Lebens. Die konnte er gern bleiben – ihre Liebe, meine Übergangslösung. Mir war klar, dass ich an einer Uni keine Chance hatte. Erstens glaubte meine Mutter nicht, dass ich studieren müsste („Bleib hier und lern etwas Nützliches!“), zweitens konnten wir dafür in keinster Weise bezahlen. Aber Innstetten, dieser aufgedunsene Mann mit viel zu gegelten Haaren, hatte Geld. Genug für sich und mich.

Mein Herz traf die Entscheidung schneller als mein Verstand folgen konnte. Ich reichte Innstetten ein Sektglas vom Buffet und stieß mit ihm an.

„Bitte erzählen Sie mir mehr von Kessin, ich bin sicher, es ist wunderschön.“

Amely

 

Berlin ist ein Anfang

Die Musik bringt den Fußboden zum Vibrieren, teilweise hört es sich so an, als würden die Neunzigerjahrehits nur noch aus Bass bestehen. Es ist überwiegend dunkel, nur manchmal erleuchten bunte Lichter die Halle, in der unser Abiball stattfindet.
Mein Abiball.

Die Mädchen sehen noch nuttiger aus als sonst und die Typen sehen alle gleich aus.

Ich schaue an mir herab. Ich sehe nicht nuttig aus. Zumindest schätze ich es selbst so ein. Ganz im Gegensatz zu meiner besten Freundin, die schon völlig betrunken ist und scheinbar gar nicht mehr mitkriegt, dass ihr trägerloses, lilafarbenes Kleid auf halb acht hängt, als sie sich neben mich an die Bar stellt und dabei ignoriert, dass sich noch andere Menschen um ein Getränk bemühen. Ich schaue an Emilys schielendem Gesicht vorbei, der Barfrau hinterher. Sie hetzt durch die Gegend, um alle Bestellungen aufzunehmen. Sie sieht überfordert aus. Sie scheint auch vergessen zu haben, dass ich vor zehn Minuten eine Cola bestellt hatte. Aber wer bestellt auch alkoholfreie Getränke auf einer Veranstaltung, bei der sowas den gesellschaftlichen Normen widerspricht. Emily scheint glücklich mit ihrem Vollbier zu sein. Ihrem fünften inzwischen. Bei allen anderen Getränken konnte ich nicht mehr mitzählen. Sie neigt den Kopf zu mir: „Wer is’n der alte Sack da bei deiner Mutti?“
Irritiert schaue ich sie an. „Das ist mein Vater.“
Emily grunzt. Das sollte wahrscheinlich ein Lachen darstellen.

„Schon klar, wer dein Vater ist, Pappnase“, erwidert sie und wendet mich wie einen Pfannkuchen, so dass ich meine Mutter sehen kann, die mit einem fremden Typen redet. Während des Abiballprogramms war er jedenfalls noch nicht da. Er muss in den letzten Minuten gekommen sein.

„Keine Ahnung“, sage ich und drehe mich wieder um. Die Barfrau scheint sich inzwischen erinnert zu haben, dass ich der einzige Dummkopf bin, der ein Event wie dieses nüchtern erleben will. Ich nehme das Colaglas und trinke es halbleer.
„Sie scheint auf ihn zu stehen“, lallt Emily und hakt sich bei mir unter, während wir zum Büffet laufen, das quer an der Wand aufgebaut wurde und damit etwas weiter entfernt vom DJ-Pult steht. Bis auf ein paar gefüllte Eier und trockene Brotscheiben sind nur noch Reste der Aufläufe und Soßen übrig. Ich schiebe mir ein gefülltes Ei in den Mund, Emily nuckelt an einer Scheibe Brot. Gut für sie.

„Soll sie doch.“ Und als hätten wir ihren Namen ein paar Mal zu oft gesagt, legt mir meine Mutter plötzlich eine Hand auf die Schulter. Ich drehe mich zu ihr. Sie trägt ein dunkelblaues langes Kleid und hat ihre blonden kurzen Haare ein wenig hochfrisiert. Neben ihr steht der alte Sack. Er sieht aus, wie jeder Mann bei so einer Veranstaltung aussieht: Schwarzer Anzug, Krawatte, weißes Hemd.
„Effi, das ist Innstetten“, stellt meine Mutter ihn vor.
Er reicht mir seine Hand. Ich gebe ihm meine.
„Wir sind . . . alte Freunde.“
Ich hebe eine Augenbraue. Offensichtlicher ging es ja nicht. „Aha“, sage ich und ziehe meine Hand wieder zurück, nachdem wir einander ausführlich die Hände geschüttelt haben. Meine Mutter lächelt immer noch, als würde bei ihr irgendwas festhängen. „Ich hol euch mal was zu trinken, oder?“ Ich will gerade sagen, dass sie dann in fünf Stunden nicht zurück wäre, aber da ist sie schon davongerauscht. Innstetten vor mir zuckt lächelnd die Schultern. Emily hinter mir scheint, den Geräuschen nach zu urteilen, das Büffet leerzuräumen.

Ich verschränke die Arme, während Innstetten seine Hände in die Anzughosentaschen steckt. Er ist nicht hässlich. Er scheint so alt wie meine Mutter zu sein, weswegen an seinen Schläfen und auf seiner Stirn ein paar Fältchen zu sehen sind. Er hat seine kurzen braunen Haare ähnlich frisiert wie meine Mutter.
„Du siehst sehr hübsch aus. Viel hübscher als deine Mitschülerinnen“, sagt er und macht eine weitschweifende Geste durch die Halle. Hübsch ist ja auch ein Adjektiv, das deren Kleidungsstil nicht unbedingt passend beschreibt.
„Danke“, sage ich und spähe nach meiner Mutter. Sie steht zwischen Dutzenden durstigen Abiturienten.

„Und? Was hast du vor mit deiner Zukunft?“
Immer dieselbe 0815-Frage. Ich zucke die Schultern.
„Ich will die Welt sehen. Hauptsache weg vom Dorf.“

Innstetten lacht. „Das kann ich verstehen. Dank meines Jobs sehe ich sehr viel von der Welt. Ich komme auch vom Dorf und würde mein jetziges Leben nicht mehr dagegen eintauschen wollen.“
„So?“, frage ich, und etwas in mir scheint sich tatsächlich für das zu interessieren, was Innstetten erzählt.

Innstetten nickt. „Wenn du willst, kannst du mich sehr gerne mal begleiten. Demnächst muss ich wieder nach Berlin. Es ist zwar nicht das andere Ende der Welt, aber ein Anfang, nicht wahr?“

Ich lächle. Berlin. Das wäre definitiv das genaue Gegenteil des langweiligen Dorflebens, dem ich hier mein bisheriges Leben lang ausgesetzt war. „Sehr gerne“, erwidere ich und kann kaum glauben, dass diese Antwort ernst gemeint war.

Patricia

 

„Selbst wir kamen langsam in der heutigen Zeit an“

Die laute, penetrante Musik verursachte bei mir starke Kopfschmerzen. Ich konnte Elektro noch nie leiden. Das würde sich jetzt auch nicht mehr ändern. Unsere Sporthalle war gut gefüllt. Es war die halbe Schule da, mit Familie. Die Jungs trugen alle schwarze Anzüge mit weißem Hemd und Schlips. Die meisten von meinen Mitschülerinnen trugen enge Kleider, die viel Haut zeigten. Vor ein paar Jahren wäre das bei uns noch eine Unmöglichkeit gewesen. Aber selbst wir kamen langsam in der heutigen Zeit an. Ich stach ganz schön aus der Masse heraus. Ich trug ein dunkelgrünes Kleid, das bis zum Boden reichte und locker an meinem Körper anlag. Noch dazu war ich die einzige, die keinen Alkohol trank. Mindestens die Hälfte der Leute hier war schon betrunken. Es gab auch welche, die in der Ecke lagen.

Ich wusste gleich, dass das Ganze nicht gut enden würde.

Ich schaute mich um und sah meine Mom mit ihren Ex-Freund Innstetten an der Bar stehen. Er hatte vor einer Woche mit ihr Schluss gemacht. Sie war total fertig, hatte ihn jedoch zu meinem Abiball eingeladen, weil sie nochmal versuchen wollte ihm näher zu kommen. Klappte offensichtlich nicht so gut.  Als er bemerkte, dass ich zu ihm sah, sagte er etwas zu meiner Mom und kam mit zwei Getränken in der Hand auf mich zu. Ein Glas drückte er mir in die Hand und trank einen Schluck aus dem anderen.

„Wie gefällt’s dir, Süße?“ fragte er mich lächelnd. Einen Moment lang wollte ich ihn anlügen und sagen ich fände es toll, aber er kannte mich mittlerweile so gut, dass er sofort wissen würde, dass ich log.
„Willst du die Wahrheit wissen? Ich mag die Musik nicht, mit 90 Prozent der Leute hier hab ich nichts zu tun und ich frage mich, wann ich endlich aus diesem Kaff rauskomme.“

Ich merkte, wie sich ein weiteres Lächeln über das Gesicht von Innstetten schlich. Ich konnte gut verstehen, dass meine Mom ihn liebte. Wenn er lächelte, war er echt süß. Wenn er nicht so alt wäre, könnte ich mich glatt in verlieben.

„Ich kann dich gut verstehen. Als ich so alt war wie du, habe ich mich auch nach nichts mehr gesehnt, als die Welt zu entdecken. Aber glaube mir, irgendwann erkennst du, dass du nur an einem Ort zu Hause bist und du da auch nicht mehr weg willst.“ Ich dachte einen Moment lang darüber nach, aber blieb dennoch bei dem Entschluss, dass ich die große, weite Welt entdecken wollte. „Hör mal“, fuhr er fort, „ich werde demnächst nach Berlin ziehen, weil ich befördert werde und von dort einfach besser arbeiten kann. Ich wollte dich fragen, ob du mitkommen möchtest, jetzt, da du mit der Schule fertig bist.“ Ich überlegte nicht lange. Das war meine Chance! Berlin ist nicht das andere Ende der Welt, aber zumindest schonmal ein Anfang. „Klar, gerne“, lächelte ich. Innstetten lächelte zurück und fragte mich, ob ich tanzen wollte. Wir stellten unsere Getränke auf den Tisch neben uns und gingen zur Tanzfläche. Wir bewegten uns zur Musik und Innstetten kam mir zum ersten Mal richtig nah. Ich sah meine Mom an der Bar. Sie schüttete sich einen weiteren Drink in den Hals. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Promille sie schon hatte.

Innstetten kam mir immer näher und bevor ich es realisieren konnte, küsste er mich. Das war der Moment, in dem ich bemerkte, dass er mehr von mir wollte.

Lara

 

„Ich hatte nicht vor, Innstetten zu heiraten, sondern ihn zu benutzen.“

Zufrieden bemerkte ich, wie die Spitzen meines Kleides bei jeder Bewegung durch den Raum schwebten, als würden sie tatsächlich frei fliegen und nicht zu mir gehören. Es war genau wie ich es mir vorgestellt hatte. Dennoch war ich nicht zufrieden. Ab heute sollte mein Leben beginnen. Das Abenteuer, auf das ich seit Jahren wartete.

Wieso kam es mir so vor, als hätte sich nichts verändert? Müsste ich mich nicht anders fühlen?

Während ich die Arme über den Kopf hob und meine Hüften im Takt der Musik bewegte, warf ich einen Blick zu Innstetten. Er stand am Rand der Tanzfläche und beobachtete mich.

Vielleicht sollte ich doch auf sein Angebot eingehen, vielleicht könnte er mein Abenteuer werden. Immerhin war er der Freifahrtschein in eine neue Stadt.

Hatte ich nicht genau das immer gewollt? Weg von hier?

Zugegeben, er war langweilig. Außerdem war es merkwürdig, dass er sich ausgerechnet mich aussuchte, wo er doch vor Jahren mit meiner Mutter geschlafen hatte. Wollte ich diesen alten Typen überhaupt?

Mein Blick wanderte weiter. In der tanzenden Menge entdeckte ich Phil Coldwell. Gutaussehend, sportlich und vor allem in meinem Alter. Ich sollte ihn wollen. Er würde nicht nein sagen. Auf der anderen Seite würde ich mit Phil Coldwell nicht mal in den Nachbarort kommen. Sein Leben war für die Firma seines Vaters bestimmt.

Nein.

Was spielte es schon für eine Rolle, wie alt jemand war, wir lebten in einer modernen Gesellschaft. Und außerdem hatte ich nicht vor Innstetten zu heiraten, sondern ihn nur zu benutzen. Kessin war allenfalls besser als Hohen-Cremmen. Hauptsache ich kam raus aus diesem Kaff und konnte endlich die Welt sehen. Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf, vollführte eine perfekte Drehung und ging auf den Mann zu, der mir hoffentlich ein Abenteuer schenken würde.

Jette

Fotos: privat (4) / flickr

Das Original

Effi, die echte

Inspiriert von einer wahren Geschichte, entstand der Roman „Effi Briest“ in den Jahren 1889 bis 1893. Persönlich kannte der 70-jährige Theodor Fontane die realen Vorbilder seiner Titelheldin, ihres karriereorientierten, 20 Jahre älteren Gatten und ihres midlifekrisegeschüttelten Geliebten nicht. Er hatte Zeitungen studiert aber auch den Zeitgeist „gelesen“, beziehungsweise ihn den Berliner Stadtgesprächen abgelauscht. Die Denkweise der Hauptstadt verlangte, dass sich was änderte. Das fand der Autor gut, aus eigener Erfahrung seiner sieben Lebensjahrzehnte aber auch einigermaßen utopisch.

Fontane mag erkannt haben, wie dynamisch und idealistisch junge Menschen sind. Aber er war zu alt, um die Möglichkeit des Scheiterns für seine Effi auszuschließen.

Quelle des späteren Bestsellers waren eine Zeitungsmeldung vom 29. November 1886 und das Gespräch darüber, das Fontane mit der Frau des Verlegers führte. Bei einem Duell in der Berliner Hasenheide war ein Mann erschossen worden. Am hellichten Tag, mitten in der Stadt. Ein Jahrhundert später beliebter City-Park an der Grenze der Bezirke Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof, gehörte die Hasenheide damals noch zu Berlins Umland, dem Teltow. Dort trafen die Kontrahenten zusammen, um, statt zu raufen, standesgemäß aufeinander zu zielen. Der Herausforderer: Armand von Ardenne, 38 Jahre alt, Militär. Der Herausgeforderte: Emil Ferdinand Hartwich, 43 Jahre alt, Jurist.

Beiden ging es um eine Frau. Dieselbe, unschwer zu deuten. Else.

Elisabeth, 19 Jahre alt, kurz vor ihrer Hochzeit 1873.

Elisabeth von Ardenne, 33 Jahre alt, war Vorbild für Fontanes Effi Briest. Eine taffe Frau, schön, liberal denkend, von ihrer Mutter erzogen, nachdem der Vater früh gestorben war. Im Roman darf er am Leben bleiben und Anteil nehmen am Schicksal der Tochter. Aufgewachsen in Sachsen-Anhalt als jüngstes von fünf Geschwistern, genoss Elisabeth die Jugend, liebte Tanzen und und war gesellschaftlichen Veranstaltungen enorm zugeneigt. Ein Mädchen, das sich seines Standes bewusst war, aber den Charakter eines Menschen eindeutig über die Rolle stellte, die es spielen sollte.

Genau so denkt Effi. Doch ist ihr Else einen Schritt voraus. Anders als ihr literarisches Alter ego hat sie bei der Wahl des Ehemannes Mitspracherecht. Der Auserwählte ist kein titeldekorierter Alt-Adliger, sondern ein ehrgeiziger junger Militär mit belgischen Vorfahren, dessen – bürgerliche – Familie in Leipzig die Haltung vertritt: Aufstieg durch Leistung. Vater von Ardenne ist Großaktionär bei der Eisenbahn. Das verbindet ihn mit dem Rheinländer Emil Hermann Hartwich, zuständig für das Bahnwesen im Handelsministerium und Vater von Emil Ferdinand Hartwich, Elses Geliebtem in spe.

Armand von Ardenne reibt sich auf, um seine Karriere voranzutreiben, stolpert immer wieder über die Erwartungen an seine Rolle, kann aber nicht aus seiner Haut. Er will Leistung bringen, nur ist das ihm vorgegebene Tempo zu heftig. Elisabeth läuft nebenher, behält ihren eigenen Kopf und steht stabil genug, angesichts des berufsfokussierten Mannes nicht depressiv zu werden. Das schafft sie viel besser als Effi, wird allerdings auch nicht in eine Enklave an der Ostsee verfrachtet, sondern vom abwechslungsreichen Berlin nach Düsseldorf, dann wieder nach Berlin. In Düsseldorf begegnet sie 1879 dem zehn Jahre älteren Hartwich, einem profilierten Strafrechtler, der, anders als Armand, seine Work-Life-Balance im Griff hat und neben seinem Richteramt malt, rudert, Cello spielt und den Turnverein Düsseldorf gründet. Hervorhebenswert: Seine romantische Ader. Er porträtiert Else. And the rest is history.

Nicht zuletzt hat Emil einen tollen Draht zu Elses Sohn Egmont von Ardenne, dem Vater des späteren Physik-Nobelpreisträgers Manfred von Ardenne. Umgekehrt kumpelt sie mit Emils Söhnen. Patchwork, als es den Begriff dafür noch nicht gab.

Nachdem die von Ardennes nach Berlin zurückgegangen sind, schreiben sich Emil und Else leidenschaftlich Briefe. Beide wollen sich scheiden lassen, um miteinander glücklich zu werden. Ehe es dazu kommt, knackt Armand das Schloss am Schreibtisch seiner Frau und beschlagnahmt die Briefe. Heutzutage ein Unding, damals ein Kavaliersdelikt. Geschieden wird trotzdem und der betrogene Ehemann verhält sich ähnlich verletzt-bockig wie von Geert von Innstetten, doch Else die Kinder zu entfremden, schafft er nicht. Theodor Fontane mutet seiner Titelfigur da ein härteres Los zu. Effi Briest scheidet mit nur 29 Jahren aus dem Leben, Elisabeth von Ardenne stirbt, 99-jährig, am 6. Februar 1952.