An die Arbeit, Ein weites Feld

„Müssen wir das Buch ganz lesen?“

Im Unterricht gesetzt, ist Fontane für viele Deutschlehrer trotzdem ein dickes Brett zu bohren. Sarah-Marie Neumann, die an der Universität Dresden im zehnten Semester Lehramt studiert und im einem Praktikum die Schülerinnen aus Prenzlau bei ihrer Arbeit an eff.i19 begleitete, nahm die Herausforderung Fontane an. Rückblickend bewertet sie es als Chance, „an einem Projekt mitzuwirken, das ich von Beginn an konzeptionell sowie thematisch spannend fand.“ Effis Anspruch, etwas aus sich zu machen, den die Gruppe klar in Worte fasste, kann Sarah unterschreiben: „Bildung ist der Schlüssel, um die Gesellschaft zu verstehen, seinen Standpunkt zu äußern und gemeinsam Perspektiven zu schaffen. Als Lehrerin kann ich über Themen sprechen, die für mich von Belang sind und für die ich junge Menschen begeistern will.“

Haben Sie in der Schule Fontane gelesen? 
Ja. Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland konnte ich in der fünften Klasse auswendig, John Maynard rezitierte ich wohl in der neunten Klasse. Wenn ich mich richtig erinnere, war Irrungen, Wirrungen Pflichtlektüre in der elften. Meine Mitschüler*innen teilten meine Begeisterung für lange Sätze und bildhafte Sprache weniger und titelten es kurzerhand um in Irrungen, Wirrungen.
Was fällt Ihnen zu Effi Briest ein?
Effi habe ich erst im Studium kennen- und verstehen gelernt. Die Figur befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Zusammenbruch, Aufbegehren und Verstummen. Ich denke an eine junge Frau mit frohem Gemüt, hungrig auf Erlebnisse und Bekanntschaften. Sie kann und will mündig sein, aber das Ticket in die weite Welt entpuppt sich als Tragödie. Für mich ist das Werk gerade an den Punkten von Interesse, die das Ausmaß des gesellschaftlichen Abgrundes andeuten, niemals aber konkret aussprechen. Das Hinterfragen vermeintlich harmloser Sätze hat mich beim ersten Lesen schon gefesselt. Welche Figuren portraitiert Fontane eigentlich, was steckt hinter den hellblauen Blusenkleidern, Uniformjacken und Standesdünkeln?

 

Der Diskurs über diese Fragen im Seminar war anregend, wirklich spannend ist die Interpretation allerdings erst gemeinsam mit den Prenzlauer Schülerinnen gewesen.

 

Die Gruppe der Aktiven Naturschule ist intensiv in die Geschichte eingetaucht. Bitte beschreiben Sie Ihre Beobachtungen und Erfahrungen bei der Arbeit am Manuskript.
„Müssen wir das Buch ganz lesen?“ war eine der ersten Fragen. Fontanes Sprache ist komplex, die Sätze sind scheinbar grenzenlos und die Inhalte stets verschleiert. Die Gruppe setzt sich aus Schülerinnen der Klassenstufen 8 und 9 zusammen, dass sie es geschafft haben, so kontinuierlich zu lesen und zu verstehen, erfüllt mich immer wieder mit großem Stolz. Da während der Schulzeit keine Zeit war, miteinander zu arbeiten, wählten wir kurzerhand die Schulübernachtung als geeigneten Rahmen. Die ersten Treffen verbrachten wir damit, uns Effi Briest gegenseitig vorzulesen und uns immer wieder zu fragen: Was steht denn da eigentlich? In der zweiten unserer Effi-Nächte sahen wir uns die moderne Verfilmung von Hermine Huntgeburth an. Mit dem Wissen aus Buch, Film und theoretischer Exkurse durch uns Betreuende begann schließlich das Schreiben.
Kapitel für Kapitel untersuchten wir Handlungsabfolge, Höhe- und Wendepunkte, Figurenkonstellation und Charakterentwicklung. Das Schreiben an sich ging den Mädchen schnell von der Hand, sie fanden sich zu zweit zusammen, verteilten Aufgaben und entwickelten ihre moderne Effi. Beim gemeinsamen Abendessen wurden die Texte vorgelesen und gemeinsam redigiert.

 

Effi raucht? Warum habt ihr hier Präsens benutzt? Wohnen die jetzt in einem Schloss oder nicht? Und wie gehört Crampas jetzt dazu? Reiten oder Golfen?
Die Mädchen fanden einen Weg, die Geschichte zu schreiben, ohne jedes einzelne Wort miteinander abzustimmen. Kurz vor den Winterferien fanden wir uns wieder in der Teeküche der Naturschule ein, auf dem Tisch ein Haufen handbeschriebener Zettel mit Streichungen und überklebten Seiten. An diesem Abend tippten wir eine Fassung, bei der plötzliche Handlungslücken, Abweichungen und Denkfehler deutlich wurden. Die gemeinsame Überarbeitung brachte schließlich den Text, in dem sich jede Schreiberin verewigt hatte.
Was haben Sie von der modernen Effi „mitgenommen“?
Dass sich junge Menschen, gerade Mädchen, an dieser literarischen Figur reiben können. Ganz früh hat die Gruppe Effis Handlungsmotive hinterfragt: Ist das Liebe oder Langeweile; ist das jetzt wagemutig oder leichtsinnig?

 

Die moderne Effi scheint mir nicht ohnmächtig ihrer Situation ausgeliefert. Sie macht aus der Langeweile ein Abenteuer. Eine Fähigkeit, an der es mir mangelt. Vielleicht kann sie mir etwas davon abgeben.
eff.i19 vertritt den Anspruch, „Best-Practice-Beispiel“ für den Deutschunterricht zu werden. Klar ist, dass der Lehrplan nicht immer Raum lässt für so ein umfangreiches kreatives Schreibvorhaben. Welche Ergänzungen oder Umsetzungstipps würden Sie sich als angehende Lehrerin für die Praxis wünschen?
Ich denke, dass es für die Lehrenden wichtig ist, sich von den eigenen Interpretationsansätzen loszusagen. Die Prenzlauer Schülerinnen verstanden Effi ganz anders als ich zuvor, spürten Effis romantischem Empfinden viel deutlicher nach, was sich auch in ihren Ideen zur Textfassung zeigte.

Mir hat die projektorientierte Arbeit noch klarer gezeigt, wie lohnenswert das Heraustreten aus dem klassischen Unterrichtsrahmen ist.

Ich möchte Lehrer*innen jeder Berufserfahrung Mut zusprechen, sich an Neuinterpretationen heranzuwagen und dafür moderne Kommunikationsformen zu nutzen. Ein Blog wie effi19.org kann in unterschiedlichen Kontexten im Unterricht genutzt werden, allerdings zeigt sich seine Qualität besonders bei der Dokumentation eines Prozesses. Meine eigene Erfahrung aus dem Studium zeigt, dass sich viele Lehrende nicht mehr an große Projekte heranwagen und lieber die erprobten Wege gehen. Wenn also mehr Schüler*innen die Möglichkeit erhalten sollen, kreativ mit einem komplexen Roman auseinanderzusetzen, müssen zunächst die Lehrenden lernen, dass die Schüler*innen nur einen Rahmen und etwas Handwerkszeug benötigen, um ihre Ideen umzusetzen. eff.i19 bietet durch die Umsetzung in einem Blog Lehrenden die Chance, einen Schreibprozess nachvollziehen zu können. Zusätzlich kann ich mir eine Handreichung vorstellen, die sich direkt an Kollegien wendet.

 

Wie könnte Ihrer Meinung nach der Satz enden: „Die moderne Fassung von Effi Briest ist hat . . .“
. . . das Potential, den poetischen Realismus aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken; schafft es, Erzählstrukturen und Motive in die Lebenswelt junger Menschen zu rücken und ermutigt uns, verstaubt scheinende Erzählungen auf Aktualität zu überprüfen.
Foto: Privat
Ein weites Feld

Von Pappe ist nur der Einband – was Fontanes Notizbücher verraten

Ihr ist Theodor Fontane schon länger ins Netz gegangen: Gabriele Radecke bringt seine 67 Notizbücher online. Seit 2011 arbeitet sie mit ihrem Team an der ersten digitalen und kommentierten Ausgabe zu einem Werk des Dichters, die über das Fontane-Notizbuchportal einsehbar ist. In Zahlen: Rund 10 000 digitalisierte Notizbuchseiten, sieben Register, unzählige Stunden des Entzifferns. Was die Forscherin sagen kann: Die Notizbücher spiegeln Fontanes gesamtes Werk wieder, seine Arbeit als Romanautor, Reiseschriftsteller, Journalist, Kritiker, Korrespondent. Gabriele Radecke verrät: „Zusätzlich gibt es darin Tagebuchaufzeichnungen und Briefentwürfe sowie jede Menge Alltagsnotizen, To-do-Listen, sogar ein Kochrezept.“ Hier erklärt sie, was ihre Lieblingspassage ist.

Fontanes Notizbucheinträge sind schwer zu entziffern, noch dazu mit Bleistift geschrieben. Können Sie sagen, warum er ausgerechnet zum Bleistift griff?
Gabriele Radecke: Fontane schrieb nicht nur mit Bleistift, sondern auch mit schwarzer und brauner Tinte, mit Blaustift und manchmal mit einem Rotstift. Den Bleistift verwendete er wohl aus praktischen Gründen für seine Unterwegs-Notizen und Skizzen, denn es wäre zu umständlich gewesen, mit Feder und Tintenfass im Theater oder im Museum zu sitzen, ohne eine feste Schreibunterlage. Außerdem zeichnet es sich besser mit dem Bleistift als mit einem anderen Schreibgerät. Feder und Tinte verwendete Fontane, wenn er an Kapiteln seiner „Wanderungen“ oder den Romanen schrieb. Den Rot- oder Blaustift benutzte er für die Überarbeitung seiner Notizen.

Gabriele Radecke in Karwe, in den Händen hält sie ein Faksimile des Notizbuches, das Fontanes Aufenthalt 1864 dokumentiert.

Sie hatten alle 67 von Fontane erhaltenen Notizbücher vor sich. Gibt es eine Passage, die Sie besonders mögen?
Gabriele Radecke: Ganz besonders gefallen mir seine Aufzeichnungen zu den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und hier speziell die Notizen, die er sich 1864 in Karwe am Neuruppiner See gemacht hat. Er besuchte die Familie von dem Knesebeck in ihrem Herrenhaus sowie die Kirche und den Kirchhof. Dort skizzierte er das Eingangsportal und die Grabstätte der märkischen Adelsfamilie und beschrieb die Gegenstände in der Kirche, die wir zum Teil heute noch sehen können.

 

Ist nachvollziehbar, wo Fontane seine Notizen machte?
Gabriele Radecke: Die Niederschriften entstanden entweder zuhause an seinem Schreibtisch oder unterwegs, wobei er auch dann die Notizbücher für seine Einträge auf einer festen Schreibunterlage abgelegt haben muss. Man erkennt auf den Blättern ganz gut die unterschiedliche Ausprägung der Schriftzüge. Es gibt Seiten, die Fontane sehr ordentlich geschrieben hat, bei denen er auch Gliederungen vornahm oder seine Gedanken in Listenform festhielt. Manche dieser Seiten haben sogar Überschriften. Das bedeutet, dass es sich hierbei um keine spontanen Notizen handelt, sondern dass sich Fontane vor dem Notizbucheintrag Gedanken darüber gemacht hat, was er denn auf welche Weise eintragen möchte. Darüber hinaus gibt es Notizbuchseiten, die eine unruhige Handschrift haben; manchmal fallen gezackte Buchstaben auf. Die Notizen entstanden entweder beim Fahren in der Kutsche oder in der Eisenbahn, oder vor Ort, etwa in einem Museum, einem Herrenhaus oder sogar im Theater noch während der Vorstellung.

Weiß man, wie oder wo Fontane die Notizbücher aufbewahrte, wenn er sie auf Reisen dabeihatte?
Gabriele Radecke: Da er seine Notizbücher häufig unterwegs benutzte, musste er sie immer griffbereit haben. Ich vermute, dass er sie in der Jackentasche beförderte.

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Wenn Fontane gewusst hätte, dass seine Notizen nach 150 Jahren öffentlich gemacht werden, hätte er sich zurückgehalten – oder behandelte er seine Aufzeichnungen von Anfang an als „open source“?
Gabriele Radecke: Die Frage lässt sich leider bislang nicht beantworten. Wir wissen nur, dass Fontane viel mehr Notizbücher als die 67 überlieferten geschrieben hat. So belegen etwa Briefe, die er seiner Frau 1852 aus England geschrieben hat, dass er während dieser Zeit schon Notizbücher geführt hat. In eines hat er einen kleinen Brief und eine Haarlocke seines ältesten Sohnes gelegt. Vielleicht wurden nach Fontanes Tod viele Notizbücher, wie etwa auch sein Briefwechsel aus der Verlobungszeit, vernichtet, weil sie zu private Aufzeichnungen enthielten. In den Notizbüchern, die wir heute zur Verfügung haben, gibt es jedenfalls keine intimen Geständnisse.

Wo haben Sie gelernt, Fontanes Handschrift zu entziffern?
Gabriele Radecke: Während meines Studiums und durch viel Üben habe ich mich in seine Handschriften eingelesen. Am besten gelingt es, indem man bereits entzifferte Texte, etwa gedruckte Brieftexte, mit der Original Briefhandschrift Fontanes vergleicht. Allerdings gibt es in seinen Notizbüchern einige Stellen, die mein Team und ich bislang noch nicht entziffert haben oder wo wir sehr unsicher sind, ob wir das richtige Wort getroffen haben. Das ist etwa bei einer seiner Theateraufzeichnungen der Fall.

Hatte Fontane einen speziellen Laden in Berlin, in dem er Notizbücher kaufte?
Gabriele Radecke: Ja. Fontane kaufte seine Notizbücher bei drei Berliner Schreibwarenhändlern: Albert Henning in der Brüderstraße und in der Leipziger Straße bei Otto Walker und Fr. Wolffhardt. Das verraten uns die Firmenklebchen, die in einigen Büchern noch vorhanden sind. Die Notizbücher sind im so genannten Kleinoktav-Format, etwa zehn mal 17 Zentimeter groß. Es sind preiswerte Pappbändchen mit unterschiedlichen Einbänden, die zum Teil aus Papierresten hergestellt wurden; nur wenige haben ein Lesebändchen oder sind in Leder eingebunden. In unserem Fontane-Portal kann man die unterschiedlichen Einbände sehen.

Fotos: Privat

Als Leiterin der Theodor Fontane-Arbeitsstelle Göttingen verantwortete die Berlinerin Dr. Gabriele Radecke die Herausgabe der Großen Brandenburger [Fontane-]Ausgabe. Die fortlaufende, digitale Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern entsteht an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen und der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek. Für ihr besonderes Engagement in der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde Gabriele Radecke 2017 mit dem Preis des Stiftungsrats der Universität Göttingen ausgezeichnet. Ihre Arbeit verdeutlicht in bisher einzigartiger Dichte, wie Fontanes Notizbücher die Entstehung seines gesamten Werkes begleitet und geprägt haben.

Ein weites Feld

Der Ball beschließt das erste Kapitel

Fontane ist Unterrichtsstoff, häufig zum Leidwesen derer, die im Klassenzimmer oder im Seminarraum sitzen und zuhören (müssen). Angestaubt, preußisch, schwer zugänglich – schmeichelhaft sind die Assoziationen nicht. Eine Gruppe Studierender der FH Potsdam hat sich ein Jahr vorm Jubiläum Fontane200 mit dem Dichter befasst, orientiert an der Frage: Warum eigentlich Fontane? Die Ergebnisse machen Lust, 2019 zu feiern. Neue pfiffige Buchcover für die Klassiker, ein Memory zum viel zitierten „weiten Feld“, oder der Vergleich historischer Kontaktanzeigen mit dem, was wir heutzutage auf Tinder preisgeben, beweisen: Fontane lässt sich modern spielen!
Nicole Krüger studiert im Master Europäische Medienwissenschaft in Potsdam und war eine Teilnehmerin des Projekts. Sie hat sich – auch – mit Effi Briest befasst und dem neuen Lebensabschnitt, der für junge Frauen mit dem Ende der Schulzeit beginnt. Nicole sprach mit Abiturientinnen aus Werder an der Havel und fotografierte sie am Abend ihres Abiballs. Ein Erfahrungsbericht.

Warum eigenlich Fontane? Die Mark erwandert haben die Studierenden der FH Potsdam auch, und währenddessen ganz „fontanesk“ Eindrücke gesammelt, wie sich das Werk des Dichters in einen zeitgenössischen Kontext übersetzen lässt.

Ursprünglich komme ich aus Brandenburg, im Landkreis Oberhavel bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Während der Schulzeit bin ich natürlich mit Fontanes Werken in Berührung gekommen, jedoch musste ich nie einen ganzen Roman lesen. Ich habe das Thema eher als trocken in Erinnerung behalten. Was mich am Kurs zunächst doch gereizt hat, waren der Titel und die inhaltliche Beschreibung „wir können uns die Jubiläen nicht aussuchen aber vielleicht das Beste daraus machen und für uns selbst und andere neue Zugänge erschließen“.

So hat sich dieses Projekt entwickelt, als eine Art experimenteller Raum, in dem sowohl die Person Fontanes als auch seine Werke in neue Formate übersetzt wurden und eine differenzierte Auseinandersetzung möglich war.

Mein eigener Abiball fand 2012 statt. Wir feierten eher unspektakulär in einer Turnhalle. Es war ein schöner Abend und ich trug ein kurzes, schwarzes Kleid, das ich einen Tag vorher in einem Outlet-Center in Berlin gekauft hatte. Ich hatte Wochen vorher nach einem passenden Kleid gesucht aber bin dann doch erst so kurzfristig fündig geworden. Mein Kleid hängt tatsächlich noch bei mir im Schrank, obwohl ich es nach meinem Abiball kein zweites Mal getragen habe.

Ich war damals sehr positiv gestimmt, weil ich nach dem Abschluss für ein paar Wochen verreist bin und für die Zeit danach beriets ein Praktikum in einem Fotostudio vereinbart hatte. Daher wusste ich, was mich erwartet. Ich freute mich zunächst darauf, die Unsicherheit kam erst, als mir während der Arbeit bewusst wurde, dass Studiofotografie absolut nicht mein Ding ist. Da musste ich mich neu orientieren.

Aufbruch kann Vieles bedeuten, man assoziiert damit zunächst einen Anfang oder eine Veränderung, etwa den Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

Ein Aufbruch gibt keine Richtung vor. Es steckt der Bruch darin, man schließt etwas ab, lässt eine bestimmte Lebensphase hinter sich und widmet sich etwas Neuem. Fontane hat in einigen seiner Romane bedeutsame Wendepunkte im Leben junger Frauen thematisiert, auch bei Effi Briest, die zunächst in eher freudiger Erwartung die Ehe mit Innstetten eingeht, die Vermählung jedoch den Beginn ihrer tragischen Geschichte markiert.

Es geht in meiner Arbeit nicht nur um den Bezug zu Effi Briest, sondern um die Stellung und die eingeschränkten Möglichkeiten der Frauen zu Fontanes Zeit. Für die Frauen in meiner Arbeit ist der Abschlussball ein Punkt, von dem an sie selbstbestimmt ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können, anders als vor 150 Jahren. Alle haben große und sehr unterschiedliche Pläne was ihre Zukunft betrifft.

Es war für mich keine Überraschung, wie wichtig den jungen Frauen dieser Abend und vor allem ihr Outfit war. Wenn ich an meinen Abiball zurückdenke, war das zwar noch nicht ganz so ausgeprägt, aber der Trend aus den USA einen unvergessenen und pompösen Prom zu feiern, scheint sich von Jahr zu Jahr zu steigern.

Die meisten Frauen hatten eine klare Vorstellung von ihrer Zukunft. Viele wollten verreisen und im Anschluss eine Ausbildung oder ein Studium beginnen. Generell wirkten sie alle schon sehr erwachsen und bewusst was ihre Entscheidungen betrifft. Auch die Wahl des Kleides schien zum jeweiligen Charakter zu passen. Ich habe mich in der Recherchephase intensiv mit anderen fotografischen Arbeiten zum Thema Abschlussball auseinandergesetzt, sowie mit Arbeiten, die junge Frauen in der Übergangsphase hin zum Erwachsenwerden zeigen.

Tanz- bzw. Heiratsbälle vor 150 Jahren und heutige Abschlussbälle lassen sich nicht in einen Topf werfen. Sie haben zwar eine Gemeinsamkeit, denn sie markieren einen Wendepunkt im Leben der jungen Frauen, dieser könnte mittlerweile kaum unterschiedlicher sein.

Heutzutage geht es vor allem darum, noch einmal gemeinsam zu feiern: Schüler, Lehrer, Eltern, Freunde und Verwandte kommen zusammen, um die Leistung der AbiturientInnen anzuerkennen. Der Ball markiert auch den Abschied, nicht nur von der Schulzeit, zum großen Teil auch vom Elternhaus, das die meisten in den Wochen und Monaten nach dem Schulabschluss verlassen.

Fotos: Nicole Krüger /FH Potsdam

Ein weites Feld

„Effi hat das Beste aus ihrer anfänglich unglücklichen Situation gemacht“

Als Studentin an der Universität Leipzig entschied sich Juliane Stückrad für Ethnologie und Kunstgeschichte. Nach ihrem Abschluss reiste sie durch Mittelamerika, auf der Fährte exotischer Kulturen. Zurückgekehrt, spürte sie dem kulturellen Gedächtnis ihrer Landsleute nach, der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Gewandert wie Theodor Fontane, den die gebürtige Eisenacherin schätzt, ist Juliane Stückrad allerdings nicht. Sieben Jahre lebte und arbeitete sie im Süden Brandenburgs. Die Begegnungen mit den Menschen dort inspirierten ihre Dissertation, „Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit. Transformationsprozesse im ländlichen Raum in Brandenburg am Beispiel von Elbe-Elster“. Medial geschürten Vorurteilen über jammerige Ostdeutsche hält sie ein dynamisches Plädoyer entgegen, wonach eine Gesellschaft, die sich ständig neu erfinden muss, ein Recht auf Toleranz hat, auf Wertschätzung – und Erschöpfung. Ein Gespräch über Identität(en).

In Ihrer Dissertation fällt das Wort „Transformationsprozesse“. Das klingt schmerzhaft, aber dynamisch. Wie übersetzen Sie den Begriff?
J.S.: Er hat sich in der wissenschaftlichen Sprache durchgesetzt, wenn es um die Umformung eines gesellschaftlichen Systems in ein anderes geht. Ich verwende diesen Begriff nicht wertend. Jeder empfindet diesen Prozess anders. Es kann sein dass es einzelne gibt, die diese Umwandlung als schmerzhaft erleben, andere erleben sie als Befreiung.

Auch Theodor Fontane hat vor rund 150 Jahren Veränderungen in der Haltung seiner Landsleute beschrieben, etwa den Fortschrittsglauben oder aber die Kriegsbegeisterung 1870/71. Dem entgegen setzte er seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, ein idyllisches, im Erzähltempo unaufgeregtes Buch. War das Absicht?
J.S.: Fontane folgte selbst dem Geist seiner Zeit, der Landschaft und das Leben der Landbevölkerung neu entdeckte und für künstlerisch inspirierend hielt. Generell spürt man als Bewohner ländlicher Räume bewusster die Anhängigkeit von der Natur. Das strukturiert das Leben anders. Die Gegenden sind dünner besiedelt. Und wo weniger Menschen leben, gibt es auch weniger Kontakte und Aktionen. Beides, die Nähe zur Natur und die strukturelle Ereignislosigkeit, führen zu einem bestimmten Lebensgefühl, das der eine positiv als Entschleunigung empfindet, während der andere sich langweilt.

Sind die Brandenburger konservativ – oder sind sie weitsichtig genug, nicht jeden Trend sofort mitzumachen?
J.S.: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich während meiner Jahre in Brandenburg überproportional viele konservativ eingestellte Menschen traf. Ich hatte eher den Eindruck, dass sich viele im Zustand einer Suche befanden. Man war bemüht, mit den Erfahrungen aus dem Leben in der DDR und der Nachwendezeit Handlungssicherheiten für die lokalen Gegebenheiten zu finden.

Unsere Herkunftsheimat prägt unsere Identität am stärksten. Sie stammen aus Thüringen, haben in Sachsen studiert und dann sieben Jahre in Brandenburg gelebt. Was ist Ihnen aufgefallen, wo die Mark anders tickt?
J.S.: Ich erlebte in der Tat einen Kulturschock, nachdem wir uns entschieden hatten, richtig nach Brandenburg zu ziehen. Das war vor allem dem Stadt-Land-Unterschied geschuldet, da ich bis dahin nur in Städten gelebt hatte. Das Leben auf dem Land erschien mir anstrengender und einsamer, weil man nicht die gewohnte Infrastruktur vorfindet und nicht so einfach die sozialen Milieus findet, die man gewohnt ist. Dafür begegnete ich Menschen, die ich in der Stadt nie getroffen hätte und von denen ich viel lernte. In der Rückschau war die Zeit in Brandenburg sehr wichtig für meine persönliche Entwicklung. Ohne es zu deuten, stelle ich fest, dass ich als Ethnologin bei meinen Forschungen in den Dörfern und Städten Thüringens und Sachsens sehr viel einfacher mit den Menschen ins Gespräch komme, als in Brandenburg. Bei meiner Feldforschung im Elbe-Elster-Kreis war es wesentlich aufwändiger an Daten zu kommen. Die Menschen im Süden Brandenburgs wirkten verschlossener auf mich und mehr mit sich beschäftigt, natürlich von den Ausnahmen abgesehen, von denen ich genauso berichten könnte.

Sind Fontanes Romanfiguren typische Brandenburger?
J.S.: Ich halte es für gewagt, sie mit heutigen Menschen zu vergleichen. Die Region war jahrhundertelang von der Gutswirtschaft und deren Abhängigkeitsverhältnissen geprägt. Das ist mentalitätsgeschichtlich nicht unwesentlich, weil es die Einstellung zu Machtverhältnissen und zur eigenen Handlungsfähigkeit beeinflusste.

Effi Briest ist eine junge Frau, deren Wunsch, modern zu denken und Neues zu wagen, von den Konventionen ihrer Zeit und ihres sozialen Umfelds gecrasht wird. Geht Fontane zu hart mit seiner Protagonistin um oder war er als Autor einfachzu alt, um ihr Schicksal optimistischer zu schreiben?
J.S.: Fontane hat beim Schreiben möglicherweise die dramatische Handlung vor Augen gehabt, die mit dem frühen Tod Effis einfach besser funktioniert hat.

Wie haben Sie die jungen Brandenburger heutzutage erlebt?
J.S.: Sie sind, wie wir alle, entspannter, was die gesellschaftliche Relevanz von Eheschließungen und Scheidungen betrifft. Und dennoch sind auch wir in Konventionen gefangen; zum Beispiel, dass junge Eltern heute viel zu leisten haben: Man muss beruflich erfolgreich sein, möglichst nicht zu spät Kinder bekommen, diese optimal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten und neben Beruf und Familie auch noch fit, gut drauf und gesellschaftlich engagiert sein. Das alles ohne Dienstpersonal zu bewältigen, wäre für Effi sicherlich undenkbar gewesen.

Mich hat erstaunt, dass die Familie für viele junge Menschen, Jungs und Mädchen, die ich in Brandenburg traf, so eine große Rolle spielt. Das wirkte auf mich nicht zwanghaft, sondern freiwillig und zumeist entspannt. Mir erschien es aber häufig, dass in vielen Familien Zukunftsängste und Pessimismus, die aus der Massenarbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung resultierten, an die nächste Generation weitergegeben wurden. Mädchen mussten mit ihren beruflichen Interessen häufig konsequenter ihr Zuhause verlassen und konnten sich so andere Weltsichten aneignen.

Wenn Effi im Jahr 2019 als junge Frau ihren Wohnsitz Hohen-Cremmen „managen“ würde, wie sähe der aus? Haben Sie in Brandenburg ein Beispiel erlebt, das funktioniert und Identifikationsräume für die Menschen vor Ort schafft?
J.S.: Effi käme würde mit Hilfe von Fördermitteln und Spenden das heruntergekommene Gut zu einem Mehrgenerationenhaus mit betreutem Wohnen und Kindergarten ausbauen. Kulturelles Herzstück dieser Einrichtung ist ein Buchladen mit Lesecafé, die von ortsansässigen jungen Leuten betrieben werden. Dort gibt es regelmäßig Veranstaltungen und sogar eine Theatergruppe hat sich gegründet, die lokale Themen humorvoll auf die Bühne bringt. Dafür habe ich übrigens ein wunderbares Vorbild vor Augen, die „Bücherkammer“ in Herzberg.

Ausgehend von Effis Gut ist das ganze verschlafene Dorf zu neuem Leben erwacht. Erste Familien ziehen zu und in Kürze wird der alte Dorfkonsum wiedereröffnet. Für eine zuverlässige Busverbindung in die nächste Stadt setzt sich jetzt eine Bürgerinitiative ein. Ich würde sagen, Effi hat das beste aus ihrer anfänglich unglücklichen Situation gemacht. Sie kann sehr stolz auf sich sein. Ach so, natürlich hat sie auch jemanden fürs Herz gefunden, der sie wirklich liebt. Es ist der Pfarrer aus dem Nachbardorf, aber das soll noch keiner wissen.

 

Dr. Juliane Stückrad, Jahrgang 1975, ist Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat in Leipzig studiert, in Jena promoviert und lebt – nach einem Abstecher in den Süden Brandenburgs – nun wieder mit ihrer Familie in ihrer Heimatstadt Eisenach. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Bereiche Theaterethnologie, religiöse Volkskunde, Dorf- und Brauchtumsforschung. Aktuell beschäftigt sie sich mit der Bedeutung der Dorfkirchen im ländlichen Raum in Sachsen. Sie ist zudem Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Volkskunde der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Fotos: Privat