Ein weites Feld

Von Pappe ist nur der Einband – was Fontanes Notizbücher verraten

Ihr ist Theodor Fontane schon länger ins Netz gegangen: Gabriele Radecke bringt seine 67 Notizbücher online. Seit 2011 arbeitet sie mit ihrem Team an der ersten digitalen und kommentierten Ausgabe zu einem Werk des Dichters, die über das Fontane-Notizbuchportal einsehbar ist. In Zahlen: Rund 10 000 digitalisierte Notizbuchseiten, sieben Register, unzählige Stunden des Entzifferns. Was die Forscherin sagen kann: Die Notizbücher spiegeln Fontanes gesamtes Werk wieder, seine Arbeit als Romanautor, Reiseschriftsteller, Journalist, Kritiker, Korrespondent. Gabriele Radecke verrät: „Zusätzlich gibt es darin Tagebuchaufzeichnungen und Briefentwürfe sowie jede Menge Alltagsnotizen, To-do-Listen, sogar ein Kochrezept.“ Hier erklärt sie, was ihre Lieblingspassage ist.

Fontanes Notizbucheinträge sind schwer zu entziffern, noch dazu mit Bleistift geschrieben. Können Sie sagen, warum er ausgerechnet zum Bleistift griff?
Gabriele Radecke: Fontane schrieb nicht nur mit Bleistift, sondern auch mit schwarzer und brauner Tinte, mit Blaustift und manchmal mit einem Rotstift. Den Bleistift verwendete er wohl aus praktischen Gründen für seine Unterwegs-Notizen und Skizzen, denn es wäre zu umständlich gewesen, mit Feder und Tintenfass im Theater oder im Museum zu sitzen, ohne eine feste Schreibunterlage. Außerdem zeichnet es sich besser mit dem Bleistift als mit einem anderen Schreibgerät. Feder und Tinte verwendete Fontane, wenn er an Kapiteln seiner „Wanderungen“ oder den Romanen schrieb. Den Rot- oder Blaustift benutzte er für die Überarbeitung seiner Notizen.

Gabriele Radecke in Karwe, in den Händen hält sie ein Faksimile des Notizbuches, das Fontanes Aufenthalt 1864 dokumentiert.

Sie hatten alle 67 von Fontane erhaltenen Notizbücher vor sich. Gibt es eine Passage, die Sie besonders mögen?
Gabriele Radecke: Ganz besonders gefallen mir seine Aufzeichnungen zu den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und hier speziell die Notizen, die er sich 1864 in Karwe am Neuruppiner See gemacht hat. Er besuchte die Familie von dem Knesebeck in ihrem Herrenhaus sowie die Kirche und den Kirchhof. Dort skizzierte er das Eingangsportal und die Grabstätte der märkischen Adelsfamilie und beschrieb die Gegenstände in der Kirche, die wir zum Teil heute noch sehen können.

 

Ist nachvollziehbar, wo Fontane seine Notizen machte?
Gabriele Radecke: Die Niederschriften entstanden entweder zuhause an seinem Schreibtisch oder unterwegs, wobei er auch dann die Notizbücher für seine Einträge auf einer festen Schreibunterlage abgelegt haben muss. Man erkennt auf den Blättern ganz gut die unterschiedliche Ausprägung der Schriftzüge. Es gibt Seiten, die Fontane sehr ordentlich geschrieben hat, bei denen er auch Gliederungen vornahm oder seine Gedanken in Listenform festhielt. Manche dieser Seiten haben sogar Überschriften. Das bedeutet, dass es sich hierbei um keine spontanen Notizen handelt, sondern dass sich Fontane vor dem Notizbucheintrag Gedanken darüber gemacht hat, was er denn auf welche Weise eintragen möchte. Darüber hinaus gibt es Notizbuchseiten, die eine unruhige Handschrift haben; manchmal fallen gezackte Buchstaben auf. Die Notizen entstanden entweder beim Fahren in der Kutsche oder in der Eisenbahn, oder vor Ort, etwa in einem Museum, einem Herrenhaus oder sogar im Theater noch während der Vorstellung.

Weiß man, wie oder wo Fontane die Notizbücher aufbewahrte, wenn er sie auf Reisen dabeihatte?
Gabriele Radecke: Da er seine Notizbücher häufig unterwegs benutzte, musste er sie immer griffbereit haben. Ich vermute, dass er sie in der Jackentasche beförderte.

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Wenn Fontane gewusst hätte, dass seine Notizen nach 150 Jahren öffentlich gemacht werden, hätte er sich zurückgehalten – oder behandelte er seine Aufzeichnungen von Anfang an als „open source“?
Gabriele Radecke: Die Frage lässt sich leider bislang nicht beantworten. Wir wissen nur, dass Fontane viel mehr Notizbücher als die 67 überlieferten geschrieben hat. So belegen etwa Briefe, die er seiner Frau 1852 aus England geschrieben hat, dass er während dieser Zeit schon Notizbücher geführt hat. In eines hat er einen kleinen Brief und eine Haarlocke seines ältesten Sohnes gelegt. Vielleicht wurden nach Fontanes Tod viele Notizbücher, wie etwa auch sein Briefwechsel aus der Verlobungszeit, vernichtet, weil sie zu private Aufzeichnungen enthielten. In den Notizbüchern, die wir heute zur Verfügung haben, gibt es jedenfalls keine intimen Geständnisse.

Wo haben Sie gelernt, Fontanes Handschrift zu entziffern?
Gabriele Radecke: Während meines Studiums und durch viel Üben habe ich mich in seine Handschriften eingelesen. Am besten gelingt es, indem man bereits entzifferte Texte, etwa gedruckte Brieftexte, mit der Original Briefhandschrift Fontanes vergleicht. Allerdings gibt es in seinen Notizbüchern einige Stellen, die mein Team und ich bislang noch nicht entziffert haben oder wo wir sehr unsicher sind, ob wir das richtige Wort getroffen haben. Das ist etwa bei einer seiner Theateraufzeichnungen der Fall.

Hatte Fontane einen speziellen Laden in Berlin, in dem er Notizbücher kaufte?
Gabriele Radecke: Ja. Fontane kaufte seine Notizbücher bei drei Berliner Schreibwarenhändlern: Albert Henning in der Brüderstraße und in der Leipziger Straße bei Otto Walker und Fr. Wolffhardt. Das verraten uns die Firmenklebchen, die in einigen Büchern noch vorhanden sind. Die Notizbücher sind im so genannten Kleinoktav-Format, etwa zehn mal 17 Zentimeter groß. Es sind preiswerte Pappbändchen mit unterschiedlichen Einbänden, die zum Teil aus Papierresten hergestellt wurden; nur wenige haben ein Lesebändchen oder sind in Leder eingebunden. In unserem Fontane-Portal kann man die unterschiedlichen Einbände sehen.

Fotos: Privat

Als Leiterin der Theodor Fontane-Arbeitsstelle Göttingen verantwortete die Berlinerin Dr. Gabriele Radecke die Herausgabe der Großen Brandenburger [Fontane-]Ausgabe. Die fortlaufende, digitale Edition von Theodor Fontanes Notizbüchern entsteht an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen und der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek. Für ihr besonderes Engagement in der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde Gabriele Radecke 2017 mit dem Preis des Stiftungsrats der Universität Göttingen ausgezeichnet. Ihre Arbeit verdeutlicht in bisher einzigartiger Dichte, wie Fontanes Notizbücher die Entstehung seines gesamten Werkes begleitet und geprägt haben.

An die Arbeit, Eff.i2020 und ff

Das 68. Notizbuch

„Ich will was mit Medien machen“, ist kein Zitat des jungen Theodor Fontanes gewesen. 200 Jahre später fasst es seine Arbeitsweise aber ziemlich gut zusammen.

67 Notizbücher Stoffsammlung hat er angehäuft. Einen Himalaya aus Notizen, Anekdoten, Zeitungs-Clippings, Zitaten, Ideen für Texte, Stichworten über Begegnungen, Beobachtungen – ff.  Dieser Blog ist #68, das erste virtuelle Notizbuch, nicht von ihm, sondern über Theodor Fontane – und seinen Roman „Effi Briest“, der einst – vielleicht etwas gestelzt – als Adoleszenzroman galt. Heutzutage verwendet die Literatur für diese Art Bücher das Label „coming of age“. Die Handlungsaufforderung dazu lautet: Nachlesen, wie jemand erwachsen wird.

Eff.i19 dokumentiert, wie jemand erwachsen wird, seinen Raum erweitert, und darüber schreibt.

Nachzulesen: Hier. Schülerinnen und Schüler aus Brandenburg machen sich in die Spur, Stoff für eine neue, eine moderne Fassung von Effi Briest zusammenzutragen, und ihre Geschichte als Fortsetzungsroman („ff.“) aus ihrer Sicht wiederzugeben. 2019 jährt sich Fontanes Geburtstag zum 200. Mal. Die Laudatio schenken wir uns und ehren ihn damit, seine Methode anzuwenden, weil sie zur Mediennutzung junger Menschen heute passt. Ein worldweites Feld, das ihm gerecht wird. Und uns auch.