An die Arbeit

Ulmus minor: Mit Latein gegen Eltern-Blabla

Ebenfalls angekommen. Im englischen Dartford nimmt Effi das riesige Haus ihres Onkels in Augenschein – und landet bei einer Entdeckung, die genausowenig ins Bild zu passen scheint, wie sie selbst.

Effi ließ ihre Beine die Halfpipe hinunterbaumeln. Sie wippte mit den Füßen, tippte mit den Spitzen ihrer Turnschuhe auf das Holz. Eine Halfpipe, die mitten in einem leeren Saal stand, wie ein Monstrum aus der Gegenwart, vollkommen fehl am Platz. Es war kein Ton aus dem Haus zu hören, auch nicht von der Straße. Der Saal war wie ein Überbleibsel aus dem 18. Jahrhundert und Effi war mitsamt der Halfpipe implantiert worden.

Sie ließ die Hände an der Kante entlang gleiten. Eine dünne Staubschicht blieb auf ihren Fingerkuppen zurück. Sie betrachtete ihre Hände und zerrieb den Dreck zwischen den Fingern, bis er hinabrieselte. Nun war sie also in England und hatte ihren Onkel kennengelernt. Als sie aus dem Fenster blickte, erkannte sie den riesigen Garten wieder, den sie schon bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Allerdings hätte sie deutlich mehr sehen können, würde nicht ein Baum die halbe Sicht versperren: Eine Ulmus minor. Ihre Eltern hatten sich oft beschwert, wenn sie mit ihnen durch die Straßen gelaufen war und die lateinischen Namen der Bäume aufsagte. Sie wollten sie lieber für die Baustile in den Städten begeistern. Ob ihr Onkel das auch so sehen würde?
Wenn sie mit ihm morgen durch die Stadt spazierte, würde sie ebenfalls lauthals die Namen der Bäume aufzählen, nahm sich Effi vor. Nicht, um anzugeben oder weil es sie immer noch besonders interessierte. Sie wollte einfach nur wissen, was er antwortete. Ob es ihm auch wichtiger war, die Epoche seines Hauses zu kennen und damit Leute zu langweilen, als die Natur oder das Stadtbild an sich zu betrachten. Renaissance, Klassizismus, Barock oder wie die Baustile nicht alle hießen – am Ende hieß das doch nur, dass Leute zu einer Zeit ein Gebäude errichtet hatten. Das hatte ja nicht mal was mit historischen Ereignissen wie Kriegen oder Revolutionen zu tun. Menschen hatten immer Häuser gebaut. Manche Gebäude standen eben noch, andere nicht. Eigentlich war es ihr auch ziemlich egal, wie die Ulme auf Lateinisch hieß, sie brauchte ein Mittel gegen das Blabla ihrer Eltern. Latein war für Effi eine gute Wahl gewesen.

Sie sprang von der Halfpipe ab und so weit wie sie konnte, doch knickte sie dabei mit dem Fußknöchel um. Sie zischte Luft durch die Zähne und rieb sich den schmerzenden Knöchel. Nach einigen Sekunden erlosch der Blitz aber, der durch ihr Bein geschossen war.

Unglaublich. Sie war in England und regte sich über ihre Eltern auf. Als ob sie ihr kilometerweit gefolgt wären.

Aber das war das Problem: Egal, wie weit Effi verreisen würde, sie behielt denselben Kopf und somit die Gedanken an ihre Kindheit. Da machte es keinen Unterschied, ob sie sich in Dartford auf einer Halfpipe setzte. Vielleicht würde es leichter werden, wenn sie Oliver besser kannte. Ihr Onkel wirkte eigentlich ganz cool, wie er so ausschweifend mit den Händen erzählte und ihr sofort das ganze Haus hatte zeigen wollen, was Effi nach der anstrengenden Reise ein wenig überrumpelt hatte. Deswegen war sie in den Saal gegangen und Oliver in einem der anderen Räume verschwunden. Sie war vorhin kurz aufgestanden, um ihn zu suchen, doch der Flur hatte zu viele Zimmer und es war zu still, also hatte sie schnell wieder den Holzbogen erklommen. Oliver hatte erwähnt, dass er die Halfpipe für seinen Sohn errichten ließ. Wenn der mal vorbeikommen würde, könnte es doch ganz spaßig werden!

Plötzlich ertönte laute Musik. Das Lied kam ihr bekannt vor. Nun musste sie doch grinsen. Endlich konnte sie Oliver finden, sie musste nur der Musik folgen. Sie rannte auf die Saaltür zu, obwohl ihr Fuß bei jedem Schritt schmerzte, den flirrenden Tönen entgegen.

Swantje
Fotos: flickr

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